Interview: Wozu Philosophie?

Nichts ist so einprägsam wie ein durchdachtes Zitat! Ob berühmte Persönlichkeit oder der lustige Nachbar von nebenan ist unerheblich um dabei sein Ziel zu erreichen – andere Menschen zum Nachdenken zu bewegen. Herr Brodkorb, mein Ethiklehrer, hat dabei ein Zitat von Montaigne aufgegriffen. Und genau darüber wollen wir heute sprechen!

“In unserer Schule sollen ein Zimmer, ein Garten, Tisch und Bett, die Einsamkeit, die Geselligkeit, der Morgen und der Abend, alle Stunden einerlei sein: jeder Ort ein Studierzimmer – denn die Philosophie, die als die Bildnerin des Urteils und der Sitten ihr Hauptfach ist, hat das Privileg, überall dabei zu sein.”

-Michel de Montaigne, Philosoph des 16. Jahrhunderts

Hendrik: Herr Brodkorb, herzlich willkommen zu diesem Interview.

Herr Brodkorb: Ja Hendrik, vielen Dank für die Einladung.

Hendrik: Sehr, sehr gerne. Danke, dass Sie da sind. Seit einigen Jahren arbeiten Sie nun schon an der Internatsschule Schloss Hansenberg und sind zurzeit auch mein Ethiklehrer. Auf unserer Schulhomepage hat jede Lehrkraft die Möglichkeit, sich selbst mit einem Bild
und einem Text vorzustellen. Sie taten das auch, mit einem interessanten Bildungszitat. Warum?

Herr Brodkorb: Ich gehe vielleicht erstmal auf die, auf die formale Seite ein, auf die Inhalte
kommen wir gleich noch: Einmal ist es eben Montaigne, der sehr sehr spannend ist. Ich mag seine Essays sehr und bin dann über dieses Zitat gestolpert. Inhaltlich spricht mich da natürlich der große Stellenwert der Philosophie an. Das ist mir natürlich wichtig – kommen wir sicherlich auch noch drauf. Und dann nehme ich so eine Tendenz war in der
Erziehungswissenschaft, die alle halbe Jahr die Dinge neu erfindet und sich überhaupt nicht um ihre eigene Geschichte kümmert. Und dass man jetzt ein Zitat findet, das 500 Jahre alt ist und vielleicht doch auch noch was zu sagen hat in den Bereichen Erziehungstheorie, Pädagogik oder Didaktik oder so, das finde ich schon sehr spannend.

Hendrik: Und gerade das sagt ja auch etwas über die Person Tobias Brodkorb aus. Begreifen Sie sich als Lehrer eher als Stoffvermittler oder bedeutet für Sie der Unterricht dann doch mehr, als einfach nur den Stoff herunterzubeten?

Herr Brodkorb: Die Person Tobias Brodkorb (lacht). Ja, das ist eine ganz, ganz große Frage. Es gibt eine etwas gemeine Fangfrage unter den Pädagogen: „Unterrichtest du Schüler, oder unterrichtest du ein Fach?“ Das möchte natürlich eigentlich sagen – das Fach wird vom Fachidioten unterrichtet und der Schüler wird vom Lehrer unterrichtet. Ich habe natürlich hier das große Privileg, mit ganz tollen Menschen über ganz tolle Themen sprechen zu dürfen. Das heißt, letztlich sind wahrscheinlich Fach und Schüler irgendwie zwei Seiten der gleichen Medaille. Ich gehe wahrscheinlich stark vom Stoff aus, von dem was der Stoff hergibt. Und dann aber natürlich immer mit der Frage: Was ist interessant, was ist relevant? Wie kann man den Stoff, wie kann man die Inhalte relevant machen? Was könnte euch daran interessieren? Ich weiß nicht, ob es klappt, aber das ist jedenfalls eine Motivation.

Hendrik: In einem Textabsatz unter dem Zitat auf der Schulhomepage erklären Sie dann das Zitat und übertragen es anschaulich auf die Gegenwart. Vor 500 Jahren ist es entstanden und ist dabei immer noch aktuell. Dabei ist für Montaigne alles Schule und Schule ist das Leben. Ist das nicht ein bisschen deprimierend, wenn Schule das ganze Leben ist? Gibt es nicht mehr im Leben als Schule? Und wie darf man eben diesen Begriff „Schule“ in dem Fall verstehen?

Herr Brodkorb: Vielleicht muss der Begriff Schule auch viel positiver verstanden werden. Und eben gar nicht deprimierend, sondern: „Wow! Wir dürfen die ganze Zeit lernen, immerzu und überall: In der Studierstube, aber eben auch in der Geselligkeit und auch in der Einsamkeit. Und bei Montaigne ja auch im Bett. Wir sollten den Begriff Schule positiv besetzen, weniger als die Zwangseinrichtung, die wir alle wegen der Schulpflicht halt besuchen müssen. Vielleicht besinnen wir uns eher auf das Griechische: da heißt „Schola“ tatsächlich „die Ruhe“ oder „die Muße“, das Vergnügen, sich mit den Dingen beschäftigen zu dürfen, die einen interessieren. Und natürlich auch die ganze Zeit Neues lernen zu dürfen. Das ist jetzt durchaus ein bisschen im Kontrast zum „lebenslänglichen Lernen“, das durch die Bildungstheorie geht. Da sind die „Gesellenjahre keine Herrenjahre“. Das könnte ja auch bedeuten, man ist halt sein Leben lang bloß Schüler und kann noch gar nichts. Aber ich würde es auch hier wieder positiv deuten: Wir dürfen und können die ganze Zeit lernen. Und das Wichtigste was wir lernen, lernen wir vielleicht sogar außerhalb des Klassenraums.

Hendrik: Denken Sie denn, dass das Lernen an Schule richtig praktiziert wird? Fallen Ihnen Verbesserungsvorschläge ein, wie man Schule motivierender machen könnte, positiver gestalten könnte?

Herr Brodkorb: Also die Institution Schule gibt ja irgendwie einen sehr strengen Rahmen vor und sie ist auch nicht unbedingt und immer positiv besetzt. Das ist natürlich eine Hypothek, die die Schule schon von vornherein als Institution mitträgt, was unter Umständen den Effekt haben kann, dass man beispielsweise – auf den Deutschunterricht bezogen – ganz tolle Lektüren lesen darf. Aber sobald sie Lektüren im Deutschunterricht werden, werden Sie natürlich ganz fürchterlich. Und das ist schon tragisch. Da müsste man schon was dran machen.

Hendrik: Am Image von Schule?

Herr Brodkorb: Ja, sicherlich irgendwie am Image von Schule. Umgekehrt wäre ja die Frage, vielleicht sogar an euch Schüler*innen: Wie kann man Schule so gestalten, dass das geht? Ich würde ja wie gesagt, wenn man jetzt vom Stoff – vom Faust – ausgeht, doch irgendwie finden, dass das ein geiles Buch ist. Aber wie vermittelt man, dass das ein geiles Buch ist und wie kriegt man vielleicht auch irgendwie andere tolle Inhalte noch mehr in die Schule Die man dann auch irgendwie so übersetzen muss, dass ihr auch merkt, dass es toll ist.

Hendrik: Wer entscheidet eigentlich, dass wir im Unterricht Faust lesen?

Herr Brodkorb: Also es gibt da schon, von Fach zu Fach unterschiedlich, relativ strenge Vorgaben, relativ strenge Lehrpläne, Fachcurricula, wie die mittlerweile sehr vornehm heißen. Ich würde ja im Zweifelsfall immer sagen, dass man mit solchen Plänen eher frei umgehen sollte und das irgendwie auch kann. Aber andererseits, wenn man die Pläne hat
und wenn da in dem Kanon irgendwas steht, gilt es eben wirklich zu gucken, warum es interessant ist und was man davon haben kann. Was könnt ihr davon haben? Warum sollte man das lesen? Wie sollte man das lesen? Wobei ich dann auch die Erfahrung gemacht habe, grade am gestrigen Studientag oder so, dass man solche Lektüren auch einfach nur lesen kann. Also wir haben da gestern gesessen und das Satz für Satz gelesen, daswar jetzt nicht der didaktische Supergau, einfach nur gesessen und Satz für Satz gelesen und darüber geredet, was die Leute spannend fanden. Wobei, vielleicht lag das auch an Montaigne, das haben wir nämlich unter anderem auch gelesen (lacht).

Hendrik: Sehr gut! Zur Erklärung: An unserer Schule hatten wir gestern einen Studientag, an dem nicht normaler Unterricht war, sondern Projekte zu allen möglichen Themen. biologische Experimente, Sport, oder eben auch das philosophische Denken, um einfach mal aus dem normalen Unterricht auszubrechen und sich mit dem zu beschäftigen, was einen vielleicht auch ganz persönlich interessiert. Abseits der Curricula. Und da sind wir vielleicht auch wieder bei dem Thema Philosophie. Philosophie als Hauptfach in der heutigen Zeit. Übersetzt hieße das ja: mindestens drei Stunden pro Woche Unterricht, fest im Lehrplan verankert, vielleicht auch durchgehend ab Klasse fünf bis zum Abschluss. Das ist ja ein hoher Stellenwert, den momentan auch nur Mathe und Englisch und Deutsch haben. Würden Sie Philosophie diesen Stellenwert zugestehen als Philosophielehrer, denken Sie, das wäre notwendig? Oder ist „Hauptfach“ im Zitat wieder anders gemeint?

Herr Brodkorb: Wenn man von der Institution erstmal ausgeht und von dem Schulfach Philosophie im Sinne eines Hauptfachs, dann haben wir ja am Hansenberg schon das Privileg, beinahe ein Hauptfach zu haben mit einem 2 bis 3 stündigen Philosophieunterricht, zusätzlich dazu einem zweistündigen Ethik- oder Religionsunterricht, der sich ja auch mit entsprechenden Themen beschäftigt und wo die Verwandtschaft ja auch eine ganz klare ist. Oft werde ich gefragt „Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Philosophie und Ethik?“, und ich weiß es dann auch nicht so genau, weil die Ethik natürlich eine Teildisziplin der Philosophie ist. Da sind wir schon relativ privilegiert. Das muss man jetzt nicht so weiter sagen, aber das ist natürlich schon sehr schön, dass Philosophie und Ethik und Religion auf jeden Fall einen starken Stellenwert – auch institutionell – am Hansenberg haben. Andersherum kann man was, was du jetzt auch angedeutet hast, Philosophie natürlich auch wieder weiter fassen, so wie wir vorhin Schule weiter gefasst haben. Durch was wird Mathe und Deutsch und Englisch und Bio, wodurch wird das denn interessant? Durch die philosophischen Fragestellungen, die dahinter stehen und die wir dann aber nur durch das Fachwissen beantworten können. Natürlich können wir uns auf biologische Art und Weise beispielsweise mit den biologischen Grundlagen der Reproduktionsmedizin beschäftigen
oder mit medizinischen Verfahren. Aber dahinter steckt doch auch immer das medizinmoralische oder medizinethische Phänomen, die Fragestellung: „Wie viel Philosophie ist im Faust?“, um wieder auf ihn zurückzukommen und auf den Deutschunterricht. Und auch dieser Deutschunterricht oder der Lateinunterricht, all dies berücksichtigt die Philosophie. Da wird dann die Stoa gelesen. Und das dann auch noch im Original, wofür ich die Lateiner ja unendlich bewundere. Aber Philosophie als Fach und Philosophie als Fragestellung kommt in jedem Fach vor.

Hendrik: Das heißt man braucht gar keinen Philosophieunterricht, um zu philosophieren? Wenn man genau das sowieso im Alltag immer macht?

Herr Brodkorb: Ich glaube man sollte nicht unterschätzen, dass die Philosophie im Alltag
immer mitspielen darf. Wir haben ja im Unterricht Aristoteles gelesen, der sagt: „Die beste
Lebensform ist die der Philosophen. Dann gibt es immer gerne den Einwand, die Philosophen fänden sich halt ganz toll. Aber man kann das eben auch demokratisch lesen, und sagen: Philosophieren, das können wir eben irgendwie auch alle Über die wichtigen Dinge nachdenken können wir alle. Vielleicht haben wir sogar auch alle das Bedürfnis, darüber nachzudenken, weil das ja die Dinge sind, um die es am Ende geht und die uns beschäftigen. Und das selbst wenn wir nicht zur letzten Antworten kommen, was ja in der Philosophie immer so ein bisschen frustrierend ist (lacht). Meine Frau ist Mathematikerin und hat da natürlich auch Probleme. Aber sie liebt auch Lösungen und sie findet es immer ganz schwierig, dass ich bei den Problemen stehen bleibe. Mit Aristoteles haben wir auch den Impuls, über die Probleme nachzudenken.

Hendrik: Das stimmt. Und da sind wir auch wieder bei Montaigne. Denn: „Die Philosophie, die als die Bildnerin des Urteils und der Sitten ihr Hauptfach ist, hat das Privileg, überall dabei zu sein“. Eben auch im Matheunterricht, wenn man das so weit begreift. Jetzt mal ganz frech gefragt, vielleicht auch abseits des Zitats- Was entgegnen Sie denn den Schüler*innen, die meinen, Philo sei eben nur so ein Laberfach, nicht auf die Realität anwendbar und ganz allgemein viel zu behaftet von Geschwafel? Was antworten Sie darauf?

Herr Brodkorb: Oh weh, vielleicht wieder mit Aristoteles: „Die Philosophie ist die Nutzloseste aller Wissenschaften, aber sie ist auch die Freieste.“ Vielleicht ist die Übung des Denkens ja auch schon eine Wissenschaft, das Abstrahieren von den konkreten Problemen, ohne sie aus dem Auge zu verlieren. Man muss sicherlich am Ende den Gedanken immer wieder in all seiner Blässe an die Realität zurückbinden, aber vielleicht hat man doch auch was von diesem Schnörkel über den Gedanken, indem man eben die Probleme aus der Realität, aus der Gegenwart – sei es das schulische Problem vom Zeitmanagement bis hin zur zum Klimawandel und zum Gazakrieg – nimmt und damit in die Reflexion, in die Abstraktion geht, die verschiedenen Positionen kennenlernt und gegeneinander abwägt. Um dann natürlich auch wieder zurückzukommen. Zum Problem, zur Wirklichkeit, zum Leben. Und da kommen wir auch wieder an den Eingang des Interviews: Was wir in der Schule und in der Philosophie machen muss etwas mit dem Leben zu tun haben. Meine Erfahrung ist, dass vieles von den großen Antworten, mit denen man sich in der Philosophie beschäftigt, geschrieben von irgendwelchen alten weißen Männern, nur weil sie wirkmächtige Antworten sind, nicht immer richtige Antworten sind. Aber trotzdem sind sie wert sich mit ihnen zu beschäftigen.
Dass man doch relativ schnell drauf kommt, dass sie interessant sind und dass sie was mit mir persönlich zu tun haben. Das bleibt jetzt relativ abstrakt, aber um es konkret zu machen treffen wir uns nochmal für das nächste Interview (lacht).

Hendrik: Sehr, sehr gerne. Eine Frage hätte ich aber noch weil sie irgendwie auch sehr aktuell ist: Bei diesem Philosophieren, bei diesem Einen-Schritt-zurückgehen gibt es ja eine Person, die sehr oft in Talkshows ist und alleine von der Bezeichnung her sich das auch rausnimmt. Richard David Precht, der ja auch in der Kritik stand. Würden Sie sagen, das ist ein richtiger Philosoph oder eher so ein Halbwissenschaftler?

Herr Brodkorb: Um Himmelswillen (lacht). Ich möchte mich jetzt mit mit Herrn Precht, den
ich sicherlich auch als Medienprofi kenne, hier medial nicht anlegen – ich bin natürlich kein Medienprofi. Das Großartige an diesen Figuren ist, dass sie ja genau das machen, den philosophischen Diskurs in die Öffentlichkeit bringen. Wow! Da gibt es Leute, die denken genau über die Dinge nach. Was Inhalte angeht oder Positionen ist ja sozusagen dann auch philosophisches Geschäft oder philosophisches Anliegen, in die Kontroverse zu gehen und sich eben auch manchmal nicht einig zu sein. Aus der Uneinigkeit heraus den Diskurs zu suchen. Den würde ich wahrscheinlich auch mit Herrn Precht suchen. Tatsächlich kenne ich mich nicht so besonders aus mit Herrn Precht. Ich lese lieber Aristoteles. Aber auch Herr Precht würde wahrscheinlich sagen: Lest mal lieber Aristoteles, und dann könnt ihr mich immer noch lesen. Aber besser Precht lesen als als gar nichts. Und Precht schafft ja auch eine Öffentlichkeit für die Philosophie oder Sloterdijk oder die Namen, die eventuell durch die durch die Medien auch mal gehen. Wunderbar. Was für eine großartige Werbung! Und was wir dann damit machen, dabei steigen wir dann in de philosophischen Diskurs ein.

Hendrik: Und ob Buch oder Talkshow – jeder Ort ist als Studierzimmer.

Herr Brodkorb: Letztlich ja.

Hendrik: Und da sind wir wieder bei Montaigne! Vielen herzlichen Dank für das lehrreiche Interview!

Herr Brodkorb: Ja, Hendrik, ich bedanke mich. Dankeschön!


Foto: kostenlos bereitgestellt von http://www.pexels.com

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