Selbstorganisiertes Lernen mit Generativer KI – Chancen und Grenzen

Buch "Selbstorganisiertes Lernen mit Generativer KI"

Buchrezension zum Titel von Sauter & Stoller-Schai

Ich beschäftige mich seit einiger Zeit sehr praktisch damit, wie Lernen mit KI im Alltag funktioniert. Dazu habe ich eigene Workflows ausprobiert, Prompt-Varianten getestet, Fehler gemacht, dazugelernt – und darüber bereits einen Blogartikel geschrieben. Als mir Selbstorganisiertes Lernen mit Generativer KI in die Hände fiel, war ich entsprechend neugierig: Gibt mir das Buch neue Anstöße? Bestätigt es meine Erfahrungen – oder rückt es sie zurecht?

Lesender Roboter
Lesender Roboter

Worum es den Autoren geht – und worum eigentlich nicht

Der Titel verspricht eine enge Verbindung von KI und Lernen. Beim Lesen zeigt sich jedoch schnell: Das eigentliche Zentrum des Buches ist das selbstorganisierte Lernen. Generative KI erscheint vor allem als Katalysator und Dialogpartnerin, die dieses Lernen ermöglicht, beschleunigt und strukturierbar macht. Die Autoren argumentieren, dass in einer dynamischen Arbeits- und Lebenswelt Eigenverantwortung, Reflexion und flexible Lernpfade entscheidend sind. KI hilft dabei, aber sie ersetzt keine Ziele, keine Werte und kein Denken. Diese Grundhaltung ist sympathisch – und sie deckt sich mit meiner Erfahrung: Gute Ergebnisse mit KI entstehen nicht im Prompt, sondern vor dem Prompt (Klärung von Ziel, Kontext, Kriterien) und nach dem Prompt (kritische Prüfung, Iteration). Dass die Autoren diesen Dreischritt – Denken → Prompten → Denken – so deutlich machen, ist ein echter Pluspunkt.

Aufbau und Inhalte – Personas, Dreiklang und Praxis

Methodisch nähert sich das Buch seinem Thema aus mehreren Richtungen. Erstens entwerfen die Autoren Personas und eine Lernvision 2030, um zu zeigen, wie sehr Lernbedarfe, Biografien und Kontexte variieren. Das ist didaktisch klug: Wer sich in einer Figur wiedererkennt, findet leichter in den Stoff. Zweitens beschreiben sie den Dreiklang des Lernens: allein (selbstorganisiert), mit KI (als Sparringspartnerin) und mit anderen (sozial-kollaborativ). Dieser Dreiklang kehrt in unterschiedlichen Kapiteln wieder und bildet das Rückgrat der Argumentation. Drittens liefern sie konkrete Werkzeuge: Skills-Diagnostik, Learning-Experience-Plattformen, Microlearning, agile Iterationsschleifen, Reflexionsroutinen, Checklisten und am Ende einen 10-Schritte-Plan samt Prompt-Ideen. Die Kapitel schließen jeweils mit KI-erstellten Zusammenfassungen („Infoboxen“) – ein transparentes, konsequentes Stilmittel, das die eigene Botschaft performativ untermauert: KI kann verdichten und strukturieren, wenn ich als Lernende:r die Richtung vorgebe.

Selbstorganisiertes Lernen mit Generativer KI
Selbstorganisiertes Lernen mit Generativer KI

Was das Buch stark macht

Stark ist das Buch immer dann, wenn es Handlungsfähigkeit erzeugt. Es senkt Hürden, macht Mut, die ersten Dialoge mit KI zu führen, und zeigt, wie man sich vom Informationssammeln zum Kompetenzaufbau verschiebt. Besonders hilfreich fand ich die Haltung, KI als sokratische Lernpartnerin zu begreifen: nicht allwissend, nicht unfehlbar, aber gut darin, Gedanken zu sortieren, Beispiele zu variieren, Gegenargumente zu konstruieren und dadurch die eigene Klarheit zu schärfen. Das zahlt ein auf echte Selbstorganisation: Ziele werden explizit, Kriterien greifbar, und der Lernpfad wird iterativ verhandelbar, statt von vornherein festzustehen. Auch die wiederkehrende Forderung, Lernen in die Praxis zu verlagern – ins Tun, in Projekte, in Communities of Practice – wirkt wohltuend anti-akademisch. Wer nicht nur lesen, sondern ins Handeln kommen will, findet dafür genügend Aufhänger.

Wo es für mich hakt

Trotz vieler guter Impulse bleibt bei mir ein Reibungsgefühl. Es hat mit der starken Überhöhung des selbstorganisierten Lernens zu tun. Natürlich ist Selbstorganisation wichtig – aber im Buch schwingt bisweilen die Idee mit, sie sei die Antwort. Dadurch geraten andere didaktisch wirksame Arrangements unnötig in den Schatten: gut gemachte Seminarekuratiertes Curriculumprofessionelle Lernbegleitung. Alles „Fremdorganisierte“ wirkt latent defizitär, als ob es zwangsläufig zu „trägem Wissen“ führe. Meine Erfahrung ist differenzierter: Es gibt schlechte Seminare – und sehr gute. Es gibt starre Curricula – und solche, die Überforderung dosierenTransfer bewusst einbauen und Selbstlernphasen sinnvoll rahmen. Selbstorganisation ist kein Ersatz für kluge Didaktik, sondern profitiert oft massiv von ihr.

Ähnlich ambivalent empfinde ich das Kapitel zu „Lernmythen“. Einige Thesen („Multitasking fördert das Lernen“, „Lernen kann man im Schlaf“) lassen sich zwar wunderbar widerlegen – aber sind das wirklich Mythen, die im Feld ernsthaft kursieren? Manches wirkt wie ein Strohmann, an dem man sich bequem reiben kann. Spannender wäre es gewesen, hartnäckige Grauzonen zu adressieren: etwa die verbreitete (und verständliche) Tendenz, Lesen mit Lernenzu verwechseln, oder die Überschätzung von „Wissenshäppchen“ ohne Retrieval-Praxis. Hier hätte das Buch noch mehr konkrete Gegenvorschläge liefern können, die über generische Tipps hinausgehen: z. B. kleine Experiment-Designs für SpacingInterleaving und aktive Abrufübungen mit KI-Unterstützung.

Lesender Roboter auf Bücherstapel
Lesender Roboter auf Bücherstapel

Auch an der Ressourcenumsetzung habe ich mich gestört. Die versprochenen Prompts sind hinter einer Registrierung versteckt und dann in einem PDF abgelegt. Das macht Copy-&-Paste umständlich und bricht den Flow. Zudem fehlen einzelne, im Buch erwähnte Prompts im Downloadbereich komplett. Besonders unglücklich sind Prompt-Formulierungen, die auf das Buch selbst verweisen („Nutze die Empfehlungen aus diesem Buch …“) – die KI kennt den Buchinhalt ja nicht. Hier verschenkt das Buch Praxiswert. Ein Ressourcen-Hub mit offenem Textformat (Markdown), Versionsstand, Beispieldialogen, Varianten und Lizenzhinweisen würde den Anspruch an Selbstorganisation viel besser stützen.

Praxisnutzen – was man direkt mitnehmen kann

Trotz dieser Kritik bleiben aus meiner Sicht drei sehr brauchbare Linien, die man sofort ausprobieren kann:

Meta-Prompt statt Buch-Referenz:

Statt „Wende die Empfehlungen des Buches an“ hilft ein selbstbeschreibender Meta-Prompt, der Kontext, Ziel, Rolle und Qualitätskriterien in eigenen Worten präzisiert. Beispiel: „Du bist mein Lerncoach. Ziel: Grundlagen DSA-Analyse verstehen und auf ein konkretes Datenset anwenden. Meine Vorkenntnisse: … Rahmen: 3×30 Min diese Woche. Output: Lernplan mit Micro-Übungen, je eine Retrieval-Frage, ein Transfer-Mini-Projekt. Prüfkriterien: …“

So bleibt der Prompt robust, unabhängig von Quellen, die die KI nicht kennt.

Dreiklang operativ machen:

Selbstlernphase (Lesen/Sehen/Notizen) → KI-Dialog zur Verdichtung (Sokratischer Modus, Gegenbeispiele, Fehlersuche) → soziale Verankerung (Explain-Back an Kolleg:in oder Community-Post, Mini-Demo). Dieser Rhythmus ist simpel, aber lernwirtschaftlich: Er zwingt zu Klarheit, baut Abrufbarkeit auf und schafft Verantwortlichkeit – völlig im Geist des Buches, nur greifbarer.

Minimal-Analytics für Selbstorganisation:

Kein aufwendiges Dashboard, sondern drei Signale: Zeit im FokusAnzahl Retrieval-Events (aktive Abrufe, nicht Lesen!) und ein Transfer-Mini-Projekt pro Woche. KI kann hier als Protokoll-Sekretärin dienen („Führ ein Lerntagebuch, frage mich täglich nach 3 Sätzen: Was geübt? Was abrufbar? Woran gescheitert?“). Das ist klein genug, um dranzubleiben, und groß genug, um Wirkung zu zeigen.

Buch "Selbstorganisiertes Lernen mit Generativer KI"
Buch “Selbstorganisiertes Lernen mit Generativer KI”

Einordnung – zwischen Haltung und Handwerk

Das Buch will Haltung vermitteln: Selbstwirksamkeit, Eigenverantwortung, Kritikfähigkeit. Das gelingt und ist wichtig. Manchmal aber rutscht es von der Haltung ins Heilsversprechen. Ich hätte mir mehr handwerkliche Erdung an zwei Stellen gewünscht:

(1) bei den „Lernmythen“ – weniger Strohmann, mehr reale Fehlstrategien mit konkreten Gegendesigns,

(2) bei den Prompts – weniger PDF-Sammlung, mehr lebendige Bibliothek mit Versionen, Fallstricken, Diagnosefragen („Woran erkenne ich, dass mein Prompt schlecht ist?“) und Recovery-Strategien („Wie baue ich aus einer vagen Frage in drei Iterationen eine präzise Aufgabenstellung?“).

Für wen lohnt sich das Buch?

Wer gerade beginnt, KI als Lernpartnerin zu nutzen, findet hier eine ermutigende, niedrigschwellige Einführung und eine klare Leitidee: Du kannst und sollst dein Lernen selbst steuern – und KI kann dir dabei nützlich sein. Wer schon sicher promptet, wird die Haltungs- und Strukturkapitel schätzen, aber sich bei den Ressourcen und Beispielen mehr Tiefe und Friktion wünschen. Für didaktisch erfahrene Leser:innen ist es eine Positionsbestimmung: zustimmungsfähig in der Stoßrichtung, diskussionswürdig in der Einseitigkeit.

Fazit – meine Quintessenz

Selbstorganisiertes Lernen mit Generativer KI ist ein ambivalentes Buch im besten Wortsinn: Es lädt ein, Partei zu ergreifen – für Selbstorganisation, für Lernen im Dialog, für Praxisnähe. Gleichzeitig triggert es Widerspruch dort, wo Selbstorganisation zur Universalantwort erklärt wird. Ich nehme mit: KI eignet sich hervorragend als Reflexions- und Strukturpartnerin – aber Lernen bleibt ein soziales, situiertes, didaktisch gestaltbares Geschehen. Gute Curricula, kluge Seminare, klare Aufgaben – sie sind keine Gegner der Selbstorganisation, sondern oft deren Enabler.

Wenn du mit KI lernen willst, gibt dir das Buch eine Richtung und erste Trittsteine. Wenn du zudem Wert auf saubere Umsetzung legst, wirst du eigene Ergänzungen vornehmen: Meta-Prompts statt Buch-Referenzenoffene Ressourcenstatt PDFs, echte Übungsdesigns statt Mythen-Debatten. Dann wird aus der starken Haltung des Buches ein ebenso starkes Handwerk – und genau das braucht es, damit Lernen mit KI mehr wird als ein gutes Gefühl im Prompt-Fenster.


Selbstorganisiertes Lernen mit generativer KI: Neue dialogische Lernwelten im beruflichen Kontext

Werner Sauter, Daniel Stoller-Schai

Schäffer-Poeschel
April 2025

Seitenzahl der Print-Ausgabe ‏ : ‎ 216 Seiten
ISBN-10 ‏ : ‎ 3791066455
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3791066455
Abmessungen ‏ : ‎ 16,8 x 1.5 x 22,6 cm

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